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Veröffentlichungen

Mein neues Buch: „Früchte des Mondes“

veröffentlicht in Israel bei Alfred Nordmann

Tischri: Zeit der Wahrheit und der Erneuerung

Der Monat Tischri erscheint im jüdischen Kalender als eine Zeit spiritueller Tiefe. Er umfasst die hohen Feiertage Rosh HaShanah, Yom Kippur, Sukkot und Simchat Tora – Feste der Rückschau, der Umkehr, der Freude und der Neuorientierung. Für viele beginnt in Tischri nicht nur ein neues Jahr, sondern auch ein neues inneres Kapitel. Es ist eine Einladung, sich selbst und die Welt neu zu betrachten.
Rabbiner Schimschon Raphael Hirsch (1808–1888, Deutschland) und Rabbiner Beni Lau (geb. 1961, modernes Israel) bieten zwei unterschiedliche, sich ergänzende Perspektiven auf diesen besonderen Monat. Ihre Gedanken ermöglichen es, Tischri als eine Zeit der existenziellen Begegnung mit G!tt, den Mitmenschen und sich selbst zu verstehen.
Für Rabbiner Hirsch steht die Dringlichkeit echter, tätiger Umkehr im Zentrum seiner Auslegung. Er warnt mit eindringlichen Worten davor, Tischri auf emotionale Hochgefühle zu reduzieren. In seinen Kommentaren kritisiert er, dass viele Menschen sich mit „Tränen“, „Stimmungen der Andacht“ und „religiösen Gemütsbewegungen“ zufriedengeben, ohne dabei eine echte innere Veränderung anzustreben.
Er schreibt: „Dies ist der Monat, wenn die schlimmste Bosheit getrieben wird mit ‚Gefühlen‘, ‚Stimmungen der Andacht‘ und religiösen Gemütsbewegungen `{`…`}` All dies ist dazu bestimmt, den Glauben hervorzubringen, dass man durch solche sentimentale Ausschweifungen schon hinreichend ‚Religion‘ für das kommende Jahr geleistet habe.“
In dieser Schärfe liegt eine zutiefst ethische Forderung: Tischri soll nicht dazu dienen, sich mit zeremonieller Ergriffenheit selbst zu bestätigen, sondern soll uns aufrütteln, unser Leben tatsächlich zu ändern. Die Umkehr, die Teshuva, darf kein innerlicher Monolog bleiben. Sie muss sich in Handlungen zeigen: im Umgang mit anderen, in Verantwortung für unsere Umwelt, in der Ehrlichkeit zu uns selbst.
Und doch bleibt Tischri bei Rabbiner Hirsch nicht nur ein Monat des Ernstes und der Selbstkritik. Gerade das Laubhüttenfest Sukkot hebt er als das Fest hervor, das eine andere Dimension eröffnet: die der Freude und des Vertrauens. Die Laubhütte, die Sukka, ist für ihn ein Symbol der vertrauensvollen, lebendigen Beziehung zwischen Mensch und G!tt. In seinen Worten: „Nicht bedrückt und sorgebeladen, nicht traurig und düster, nicht mitzta’er lebt man in der Laubhütte, die von Vertrauen zu Gott und von Liebe zu G!tt gedeckt ist.“ Nach der inneren Reinigung am Yom Kippur folgt mit Sukkot nicht bloß eine Entspannung, sondern auch eine spirituelle Erleichterung, eine Feier des Menschseins in seiner Zerbrechlichkeit und G!ttesnähe. Wer sich der Wahrheit gestellt hat, darf nun unter dem provisorischen Dach des Glaubens wohnen, im Bewusstsein, dass G!tt im Flüchtigen gegenwärtig ist.
Rabbiner Beni Lau nähert sich dem Monat Tischri aus einer stärker gesellschaftlichen Perspektive. Für ihn ist Tischri nicht nur eine Zeit individueller Reinigung, sondern ein Aufruf, sich mit den Mitmenschen neu zu verbinden. Besonders in seinen Auslegungen zu Sukkot und Simchat Tora zeigt er, wie sehr diese Feste vom Miteinander leben. Die Sukka steht für ihn nicht nur als Zeichen g!ttlichen Schutzes, sondern als ein Prüfstein unseres gesellschaftlichen Zustandes.
Rabbiner Lau beschreibt auf eine ergreifende Art, wie sich Regen an Sukkot nicht nur meteorologisch, sondern auch spirituell verstehen lässt. Um seine Aussage tiefsinnig zu begreifen, müssen wir zuerst eine Stelle aus der Mischna, Traktat Sukkah in Erinnerung rufen: „Wenn es am Laubhüttenfest regnet, wem gleicht dies?
Es gleicht einem Sklaven, der seinem Herrn einen Becher zu trinken reicht, und der Herr schüttet ihm den Krug ins Gesicht.“ Der Becher mit Wein ist ein Gleichnis für den Kiddusch, den ein jüdischer Mensch in der Laubhütte machen will, um seinem HERREN zu dienen. Ein Krug mit Wasser – der Regen.
Rabbiner Lau überträgt diese Metapher aus der Dimension der Beziehung zwischen G!tt und Mensch in die zwischenmenschliche Sphäre. Er schreibt: „Wenn es regnet, fühlt es sich an, als ob Gott uns zurückstößt, uns demütigt – nachdem wir nach Jom Kippur in die Sukkah gezogen sind, als ob wir unter Seinen Schutz treten.“ Dieser Moment der Unsicherheit, der Frustration, ist für Lau ein Spiegel: Sind wir tatsächlich bereit, unser Leben auf Vertrauen zu gründen? Sind wir würdig, unter dem Schutz des Himmels zu wohnen? Und was sagt unser Umgang miteinander über diese Würdigkeit aus?
Rabbiner Lau macht deutlich, dass Tischri nicht an den Mauern der Synagoge endet. Die gesellschaftliche Dimension jüdischer Spiritualität ist für ihn zentral. Umkehr, so erklärt er, zeigt sich nicht nur in Gebet und Fasten, sondern in sozialer Verantwortung. Wenn wir echte Teshuva anstreben, muss sie sich auch im Zusammenleben ausdrücken: in Empathie, in Gerechtigkeit, in Versöhnung mit dem Anderen. Nur dann wird das neue Jahr tatsächlich neu, nicht nur im Kalender, sondern im Herzen der Menschen.
In der Verbindung beider Perspektiven liegt eine tiefe Weisheit. Rabbiner Hirsch fordert uns auf, ernsthaft zu leben, die eigenen Täuschungen zu erkennen und sich nicht mit leeren Ritualen zu beruhigen. Rabbiber Lau ruft uns dazu auf, diesen Ernst nicht im Innerlichen verkümmern zu lassen, sondern ihn in Beziehung zwischen den Menschen zu bringen, auch in die Beziehung zur Welt und zur Zukunft. Tischri beginnt mit einer persönlichen Bilanz, doch er endet in der Freude am Miteinander. Das ist kein Widerspruch, sondern die eigentliche Dynamik dieser Zeit. Die Erschütterung des Herzens führt zur Öffnung des Geistes, und diese wiederum zur Festigung der Gemeinschaft.
So ist Tischri kein Monat der Flucht aus der Welt, sondern die geistige Wiedergeburt. Wer ihn ernsthaft begeht, kommt anders aus ihm hervor, als er hineingegangen ist. Er hat sich geprüft, bereinigt, erneuert und gelernt, dass wahre Freude nicht Leichtsinn bedeutet, sondern das tiefe Gefühl, auf dem rechten Weg zu sein. Tischri ist nicht der Monat, in dem wir G!tt beeindrucken, sondern der Monat, in dem wir ehrlich werden – mit IHM, mit uns selbst und mit den Menschen um uns herum. Genau darin liegt seine bleibende Kraft.
Schana Tova uMetuka, liebe Freunde!``

Der Todesengel darf nicht hinein!

In der Mitte des 14. Jahrhunderts breitete sich die Pest von Süden nach Norden aus und verursachte einen enormen demografischen und wirtschaftlichen Schaden. An die Fersen der Seuche heftete sich eine Welle von Hass und Gewalt gegen Juden. Zunächst kam es zu Bluttaten im französischen Sprachraum, vor allem in Genf und danach in Straßburg. Im November 1348 erreichte die Pogromwelle Solothurn. Anfang 1349 wurden in Basel, Freiburg im Breisgau und Feldkirch Juden lebendig verbrannt. Die Pogrome breiteten sich weiter im Rheinland aus und verwüsteten die alten SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz – die Wiege der jüdischen Gemeinschaft im deutschen Sprachraum.
Unter Juden war die Ansteckungs- und Sterberate der Pest geringer. Das reichte dem Mob als Vorwand zur Gewalt. Dabei wäre diese geringere Ansteckungs- und Sterberate aus moderner und epidemiologischer Perspektive rational zu erklären: Juden achteten mehr auf die Hygiene als ihre Umgebung im Spätmittelalter. Kurz vor dem Pessach-Fest, als die Pandemie vor ihrem Höhepunkt stand, wechselten sie ihr Geschirr aus und reinigten ihre Häuser.
Zwischen der Pest im finsteren 14. Jahrhundert und Covid-19 im 21. Jahrhundert liegen die Epochen des Humanismus, der Aufklärung, der industriellen Revolution, der Globalisierung. Und dennoch fühlte man sich zurück ins Mittelalter versetzt, wenn immer wieder Verschwörungstheorien bekannt wurden, denen zufolge wir Juden an der Verbreitung von Covid-19 schuld wären oder zumindest hinter den Schutzmaßnahmen gesteckt hätten, mit denen wir angeblich die Welt kontrollieren würden.
„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, predigte ein frommer und weiser Jude namens Salomo (Ecclesiastes, 1:9).
Ein scharfsinniger, nicht sehr frommer Jude namens Karl Marx fügte hinzu: „Die Basis prägt den Überbau.“
Und die Juden Mark Bloch und Lucien Febvre, die Gründer der L'École des Annales, führten das weiter: eine Mentalität, die durch historische Voraussetzungen entstand, überlebt ihre Voraussetzungen und entwickelt eine finstere Eigendynamik.
Trotz aller unsinnigen Verleumdungen überlebte die jüdische Gemeinschaft sowohl die Pest- als auch die Corona-Krise, so wie die biblischen Hebräer viel früher die geopolitische Katastrophe im Alten Ägypten überstanden hatten. Die Zehnte Plage brachte den Tod und verhöhnte den Eisernen Vorhang der Pharaonen. Die Hebräer jedoch markierten die Türpfosten ihrer Lehmhütten und hielten damit den Todesengel fern. Die Unterscheidung von Innen und Außen – ein Sinnbild unserer Überlebensstrategie.
Jahrtausende später begriff die Weltöffentlichkeit den Begriff „Eiserner Vorhang“ als Grenze zwischen Ost und West während des Kalten Krieges. Dabei ging oft unter, dass diese Metapher viel älter und biblischen Ursprungs ist. Hätte Genosse Brezhnew die Bibel (z.B. Psalmen 107:16) gelesen, könnte man sogar von einer Nachahmung sprechen.
Der Zusammenhalt der Familie und der Rückzug in den privaten Bereich spiegelten sich in einem weisen Gebot wider: Das Pessach-Opfer war keine öffentliche, sondern eine häusliche Angelegenheit. Ein Lamm pro Haus. Nur sehr kleine Haushalte durften sich zusammentun, um ein Lamm zu teilen. In den darauf folgenden dreieinhalb Jahrtausenden konnte immer wieder die klare Grenze zwischen der Familie und der Außenwelt das Unheil von den jüdischen Häusern fernhalten. Die Familie zeigte sich stärker als alle antijüdischen Regierungsmaßnahmen, sei es Schikanen der Seleukiden in der Antike oder der christliche Antijudaismus im abendländischen Mittelalter.
Was sind die modernen Lämmer, deren Herzensblut den Todesengel stoppt? Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels gelten folgende Ersatzformen für Opferdienste: Tzedaka (soziale Gerechtigkeit durch Wohltätigkeit) und die Heiligkeit des Ehelebens, Gebet und Gelehrsamkeit, wobei der Religionsunterricht zu Hause eine Priorität bildet: „(Zuerst) erzähle deinem Kinde und (erst dann) spreche selber die Worte der Tora!“ (Deuteronomium, 6:7) – Sagen wir zweimal täglich im Gebet Schma „Höre Israel“.
Neben Korbanoth Tzibbur (Opfergaben der Öffentlichkeit) besteht das Prinzip Sewach Mischpacha (das Mahl im Kreis der Familie). Jede Sache hat ihre Zeit und Bestimmung, wie der bereits erwähnte König Salomo predigte (Ecclesiastes 3:14). Nach der Covid-Krise, den Bluttaten vom 07.10.2023 und der damit einhergehenden gigantischen Welle von Antisemitismus schlägt mehr denn je die Stunde der Familie. Was ist mit den Einsamen? Sie dürfen auf gar keinen Fall allein gelassen werden, wie die Worte der Pessach-Haggada verkünden: „Jeder, der es braucht, komme zu uns und opfere mit!“ Das einzig Richtige
Seit 1945 war der Krieg nie so nah wie jetzt. Die russischen Medien nennen ihn eine „Spezialoperation“. Nur weil für die Verwendung des Begriffs „Invasion“ eine Verhaftung droht?
Wenn ich manchen russischsprachigen Bekannten zuhöre, erschaudere ich. Denn nicht nur die Angst vor Repressionen, sondern auch die mutwillige Unterstützung vieler Russen steht hinter der imperialistischen Kreml-Politik. Dafür habe ich eine sehr einfache historische Erklärung: Bis 1861 bestand die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Zarenreiches aus Leibeigenen, de facto Sklaven. Die überwiegende Mehrheit der Dorfbewohner war durch ihre feudale Treue dem „Väterchen Zar“ gegenüber so geblendet, dass sie gar nicht gegen ihre grausame Behandlung protestierte. Leibeigene wurden verkauft und verschenkt oder als Einsatz im Kartenspiel benutzt. Stillende Frauen wurden gezwungen, den Welpen der Jagdhunde die Brust zu geben, damit diese gute Muttermilch bekamen. Die Adeligen jagten gerne.
Seit 1861 ist die Leibeigenschaft aufgehoben. Doch überlebte die Sklaven-Mentalität alle Zäsuren der historischen Entwicklung. Auch die Adeligen empfanden sich selbst als Sklaven des „guten Zaren“ im Kreml.
Wie recht hatten doch die Juden Mark Bloch und Lucien Febvre! Auf Jiddisch gibt es ein Sprichwort, sinngemäß übersetzt: „Es hat nur ein Jahr gedauert, die Juden aus Ägypten herauszuführen, aber es dauerte vierzig Jahre, Ägypten aus den Juden hinauszutreiben.“
Die Botschaft von Pessach ist viel komplexer als der physische Exodus aus Ägypten. Es handelt sich um die innere Befreiung aus der Sklaverei. Diese innere Befreiung scheint in der Russischen Föderation bei der Mehrheit der Bevölkerung immer noch nicht angekommen zu sein.
Was ist die Botschaft des ukrainischen Alptraums für uns Juden? Die russische Invasion hat doch mit dem Judenhass nichts zu tun – noch nicht. Ich hoffe inständig, dass ich mich irre. Dass meine Befürchtung sich in ein paar Jahren als falsch erweisen wird. Doch so glücklich mich dieser Irrtum machen würde, so wenig glaube ich daran.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis neue Verschwörungstheorien auf fruchtbarem Boden wuchern. Im Westen wehen gelb-blaue Fahnen als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Präsident Selenskyj ist Jude. Ganz gleich, wie der Krieg endet, wird es Stimmen geben, die uns Juden die Schuld zuweisen – weder zum ersten noch zum letzten Mal in der langen Geschichte unseres Volkes.
Trotz alldem überlebt die jüdische Gemeinschaft jede Krise, so wie die biblischen Hebräer die zehn Plagen überstanden, an die wir uns in der Seder-Nacht erinnern.
Seit dem bestialischen Überfall der Hamas am 07.10.2023 spüren wir die Bedeutung der Worte der Haggada mehr denn je. Die Menschen aus den zerstörten Ortschaften in der Nähe des Gaza-Streifens haben ihr Zuhause verloren, in dem sie davor Pessach feiern konnten. Auch im Norden mussten viele Israeli evakuiert werden, um dem Raketenbeschuss der Hisbollah zu entgehen.
Nach wie vor ist die israelische Gesellschaft gespalten. Die Regierung des einzigen jüdischen Staats der Welt steht unter scharfer Kritik. War es richtig, die Bodenoffensive in Gaza auf eine Art zu starten, die so viele Kinder ohne ihre Väter allein am Pessach-Tisch gelassen hat? War es falsch, die Bewohner des Nordens zu evakuieren, statt sofort und entschlossen gegen die Hisbollah vorzugehen? So wie die Umrisse der Wahrheit immer verschwommener wirken, ist auch die Grenze zwischen Richtig und Falsch für uns, die keine Experten in Politik oder militärischen Angelegenheiten sind, unklar. Nur eins bleibt sicher:
„Jeder, der bedürftig ist, komme herein und esse mit!“
Die Hilfsbedürftigen aufzunehmen, scheint das einzig Richtige in dem blutigen Wirrwarr des 21. Jahrhunderts. Solange jemand draußen friert und hungert, ist Pessach nicht koscher.