Früchte des Mondes – Gedanken zu den jüdischen Monaten
Das neue Buch «Früchte des Mondes, Gedanken zu den jüdischen Monaten» von Rabbiner Dr. Elijahu Tarantul ist stark von seiner Biografie geprägt. Vor dem Hintergrund von Covid, dem Krieg gegen die Ukraine, dem Massaker am 7. Oktober 2023 und dem weltweiten Antisemitismus zeigt er, wie das Judentum nicht nur tiefes Verständnis, sondern auch Hoffnung und Mut in Krisenzeiten geben kann.
Die Texte entwickelten sich aus monatlichen Kommentaren für die Israelitische Gemeinde Winterthur. Biblische und rabbinische Inhalte werden dabei mit moderner Geschichtsphilosophie verbunden. Der hebräische Titel Geresch Jerachim („Frucht des Mondentriebes“) verweist darauf, wie aus alten Inhalten neue Gedanken genau wie frische Früchte hervorgehen – die Antworten des Judentums auf die Ereignisse unserer Zeit.
Mit dem Titel dieses Büchleins beanspruche ich nicht, in die Fußstapfen großer Gelehrten zu treten, die ihre Werke Geresch Yerachim „Das, was aus den Monden sprießt“ nannten. So betitelte der bedeutende Rabbiner Zünz seine Kommentare zum talmudischen Traktat Gittin.
In vielen Sprachen gibt es den Begriff „verfassen“, hebr. lechaber. So wie ein Fass aus bereits vorhandenen Holz- und Metallteilen zusammengesetzt wird, beinhaltet auch dieses Buch Kommentare und Gedanken, die nicht neu sind. Ohne in die Tiefe der jüdischen Mystik herabzusteigen, sei nur erwähnt, dass ein Fass nicht per se, sondern als Gefäß wichtig ist, in dem sich ein wertvoller Inhalt befindet.
Mit dem „Köstlichen aus dem, was aus den Monden sprießt“ segnete Mosche sein Volk. Köstlich ist der Inhalt des Gefäßes, aber wieso „sprießt“ er aus den Monden? In der altägyptischen Kultur, in deren Wiege der Keim des Volkes Israel wuchs, spielte nicht der Mond, sondern die Sonne als Sinnbild der Beständigkeit die zentrale Rolle. Von ihr leiteten die Pharaonen ihren Machtanspruch ab. Nicht zufällig war das erste Gebot, das die Hebräer in Ägypten erhielten, das Feiern des Neumondes. In der Heiligen Schrift wird dies als Chodesch bezeichnet, heute nennen wir das Rosch Chodesch, „der Kopf des Monats“. Im modernen Sprachgebrauch wird Chodesch als „Monat“ verwendet; seine Grundbedeutung ist „Erneuerung“ (vgl. hebr. chadasch „neu“).
Erlauben wir uns zu fantasieren, was der Pharao Ramses dachte, als Mosche vor ihm stand und die biblischen Worte „Lass mein Volk ziehen!“ sprach. Der Pharao fühlte die Verantwortung für die schon damals uralte Zivilisation seines Imperiums, die er gegen die Kräfte von Chaos zu verteidigen wähnte. Er sah sich verpflichtet, das tausendjährige Vermächtnis seiner Vorgänger weiter zu tragen und für Kontinuität und Beständigkeit zu sorgen. Die Sonne verkörperte all das. So wie sie ihre Form nicht verändert, sollte die ewige Ordnung erhalten bleiben, die einzige, die man damals kannte: Die Sklaven mussten dienen; die chaotischen, unbeständigen Barbaren sollten vom Imperium kontrolliert werden.
Zwei Totschlag-Argumente schwebten ihm in der Polemik gegen Mosche vor:
1) „Das war schon immer so.“
2) „Sonst wird jeder mit so einer Forderung kommen.“
In Ramses Augen war Moses der Ägypter gewiss ein Verräter alter heiliger Werte. Welten prallten aufeinander. Auch den Hebräern war die Beständigkeit heilig, dennoch erkannten sie die Erneuerung als ihre notwendige Kehrseite an. Deswegen haben wir einen Mond-Sonnen-Kalender, der die beiden Prinzipien Beständigkeit und Erneuerung widerspiegelt. Wird eins dieser Prinzipien ausgeblendet bzw. von dem anderen vollständig unterdrückt, geht ihr harmonisches Zusammenspiel verloren. Der Mond wird „geboren“, „wächst“, „wird voll“, „schwindet“ und „verschwindet,“ damit ein Neumond „geboren wird.“ Er verkörpert damit die Erneuerung.
Es ist eine alte gute Sitte, dass ein Rabbiner mit Worten der Tora eine jüdische Gemeinde geistig unterstützt. Schon aus diesem Grund sagte ich sofort zu, als die Israelitische Gemeinde Winterthur, mit der ich seit vielen Jahren tief und innig verbunden bin, mich 2020 anfragte, Texte über die Monate des jüdischen Kalenders zu verfassen.
Weniger alt und weniger gut ist die Sitte, einen Rabbiner durch die Gemeinde finanziell zu unterstützen. Die großen Rabbiner der Antike und des Mittelalters hätten jeden materiellen Lohn
mit Empörung abgelehnt. Da es seit geraumer Zeit nur noch uns kleine Rabbiner im deutschen Sprachraum gibt, nahm ich dankend auch den Lohn an. Noch dankbarer war ich jedoch, für diese kleine Gemeinschaft, die mir seit vielen Jahren am Herzen liegt, schreiben zu dürfen. Umso mehr Dankbarkeit gebührt dem ehemaligen Präsidenten des Vorstands Jules Wohlmann und dem jetzigen Präsidenten Olaf Ossmann für ihre Erwartungen an mich.
Ursprünglich wollte ich auf Vorrat schreiben und die Texte dann Monat für Monat versenden. Dies wurde mit einem guten Recht abgelehnt. Die Mitglieder wollten nämlich, ähnlich wie in einer Zeitung oder einem Blog das lesen, was sie hier und jetzt interessiert. Das aktuelle Geschehen sollte im Vordergrund stehen, also die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignisse des Monats.
Die z.T. uralten Bestandteile des Fasses sollten die Fragen, Sorgen und Hoffnungen der modernen Menschen in ihrer Mitte tragen. Je nachdem, was in der Welt geschah, sollte Monat für Monat ein Kommentar aus der Sicht eines Rabbiners geschrieben werden. In diesem Inhalt zeigten sich nochmals die Bedeutung und die Kraft der Erneuerung im Judentum. Daher kam die Idee des Titels Geresch Yerachim – „Das, was aus den Monden sprießt“.
So sind Jahr für Jahr kurze Kommentare entstanden, die im vorliegenden Büchlein gesammelt sind. Der fortlaufende Text setzt sich aus heterogenen Bestandteilen zusammen, wobei die Spuren ursprünglicher Bausteine sowie die Fugen zwischen ihnen immer noch sichtbar sind. Ein aufmerksamer Leser wird das merken.
Tiefsinnige Leser sind viel bedeutsamer als geniale Verfasser. Während sich die Literaturhistoriker und Religionswissenschaftler fast obsessiv mit der Frage beschäftigen, wer, wo und wann einzelne Texte geschrieben hat, ist es manchmal wichtiger zu fragen, wer die Texte so gelesen hat, dass diese später als genial wahrgenommen wurden. Während immer wieder Bestseller genialer Autoren verkauft werden, steht eine einfache Tatsache fest: Wir Juden waren Jahrtausende lang geniale Leser. Ein Buch ist bloß gebundenes weißes Papier mit schwarzen Flecken, bevor ein Mensch es liest.
Zu den besonders aufmerksamen Lesern gehörte Rabbiner Dr. Kurt Nordmann, das geistige Oberhaupt der Israelitischen Gemeinde Winterthur. Ich möchte ihn aus einem weiteren Grund erwähnen: Er ist der einzige mir bekannte Rabbiner des 21. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum, der unentgeltlich eine jüdische Gemeinschaft führt.
War er der erste Leser meiner monatlichen Kommentare? Nein, denn hinter jedem guten Rabbiner steht seine starke Ehefrau. So war Emmy Nordmann die erste Empfängerin meiner kurzen Texte. Da sie zu einer kleinen Gruppe jüdischer Damen gehörte, die seit mehr als einem Jahrzehnt mit mir die heiligen Texte des Judentums studieren, waren und bleiben ihre Meinung und ihre Unterstützung besonders wertvoll. Drei weiteren Damen gebührt mein Dank: Prof. Dr. Hildegard Keller, sowohl bekannt als Filmemacherin und Buchautorin als auch als Germanistin, ermutigte mich und begleitete meine Arbeit mit konstruktiver Kritik. Die Lektorin und Autorin Bella Bender trug dazu bei, dass der Text fließender, lesbarer und fehlerfreier wurde. Der jüdisch-schwedischen Künstlerin Vanja Larsson bin ich für ihre Fotoaufnahmen mit Dank verpflichtet, die hier als Illustrationen verwendet wurden. Da die Texte des vorliegenden Büchleins bisher ausschließlich von herausragenden Persönlichkeiten gelesen wurden, ist auch die Erwartung an Sie, liebe Leserinnen und Leser, entsprechend hoch.
Während eines Gottesdiensts und insbesondere während der Ansprache eines Rabbiners einschlafen … Wem von uns ist das nie passiert? Mir schon!
Doch sowohl am Schabbat als auch an anderen Tagen gibt es einen Zeitpunkt, an dem alle Synagogenbesucher hellwach sind: das Gebet für die Kranken. Es ist schwer, sich emotional und mental auf Gebete zu konzentrieren, die wechselseitige Erwartungen von Juden und G‘tt beinhalten. Doch wer von uns hat keine Freunde und Verwandten, um deren Gesundheit und – G‘tt behüte –sogar deren Leben wir bangen?
Interessanterweise gilt der Monat Iyar in der chassidischen Tradition als Zeit der Heilung, was auch Rebbe Elimelch von Dinov anführt. Eine Bibel-Passage im Exodus beschreibt die Zeitspanne zwischen Pessach und Schawuot so: „Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines G‘ttes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt.“
Rabbiner S.R. Hirsch kommentiert: Der hebräische Begriff Machala beziehe sich nicht nur auf leibliche Krankheit, sondern auf jede Hemmung des Wohlbefindens, auch des Gemüts. G‘tt lässt Menschen und Staaten nicht ohne Beachtung der Gesetze gedeihen. Physisch und sozial gehen sie ohne dieselben zugrunde, und so ist die Beachtung der göttlichen Gesetze die prophylaktische Arznei für alles physische und soziale Leid.
Mens sana in corpore sano. „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ lautet ein bekannter lateinischer Spruch des römischen Dichters Juvenal. Oft wird seine Aussage völlig missverstanden, nämlich dass in einem gesunden Körper automatisch ein gesunder Geist sei. Doch dies ist nicht seine Botschaft. Das vollständige Zitat lautet: „Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei!“ Der Dichter hebt hervor, dass es nicht ausreiche, einen gesunden Körper zu pflegen und hebt die Bedeutung der spirituellen Gesundheit hervor.
Juvenal lebte und wirkte in einer Epoche, in der das römische Imperium unter starkem jüdischen Einfluss stand. Seine Aussage entspricht der Haltung des Judentums zur Harmonie zwischen Innen und Außen, Seele und Körper. Gerade im Monat Iyar gewinnt diese Harmonie eine besondere Bedeutung. Genauso wie die Knechtschaft in Ägypten sowohl eine äußere als auch eine innere Seite besaß, wurden die Nachkommen der ehemaligen Sklaven in doppelter Hinsicht befreit. Es reichte nicht aus, sie aus der Misere der Knechtschaft ins schönste Land der Welt zu führen, in dem sie frei von jeder Unterdrückung unter ihren Weinreben und Olivenbäumen gedeihen konnten.
Die Hebräer liefen Gefahr, zu den Knechten ihrer eigenen Bauernhöfe zu werden. Das war nicht Sinn und Zweck ihrer Befreiung aus dem Eisernen Vorhang der Pharaonen. Als die sowjetische Regierung im 20. Jahrhundert den Juden die Ausreise verweigerte, demonstrierte man weltweit mit dem biblischen Spruch „Let my people go!“
Doch auch dies war nur ein Teil der Botschaft G‘ttes, die Mosche und Aaron dem Pharao Ramses und seinem Politbüro ausrichteten. An mehreren Stellen der Tora steht nämlich: „Lass Mein Volk ziehen, damit sie Mir dienen!“
Wenn man nicht dem Schöpfer dient, erfindet man viele Ersatz-Götter: Reichtum, Erfolg, Genuss, Macht, Berühmtheit usw. Da Luxusautos und teure Reisen im Alten Israel unbekannt waren, bestand die Gefahr, in die Abhängigkeit von den eigenen Schafen und Ziegen, Feigenbäumen und Getreideackern zu geraten, die eigentlich dafür bestimmt waren, den Menschen zu dienen. Um das zu verhindern, gibt uns die Tora ein einzigartiges Gebot: die Zählung von Omer.
Omer, ein Volumenmaß, etwa eine Garbe von Getreiden, führt uns nochmals vor Augen, wie buchstäblich boden-ständig unsere Religion mit all ihren Geboten ursprünglich war.
Pessach und Schawout waren Erntedankfeste. Nach der Befreiung aus Ägypten kam über die alte landwirtschaftliche Seite hinaus noch die religiöse dazu: Der Exodus bzw. dessen Ziel, d.h. die Offenbarung am Berge Sinai. Unsere Weisen betonen, dass die Gerste, deren Ernte man am Pessach feierte, hauptsächlich Viehfutter war, während Weizen die wertvolle Nahrung für die Menschen darstellte.
Im Unterschied zu allen anderen biblischen Festen wird das Datum von Schawuot nicht mitgeteilt. Stattdessen soll man sieben vollständige Wochen zählen, um am fünfzigsten Tag nach Pessach das Fest Schawuot (wörtlich „Wochenfest“) zu feiern. Heute nennt man das Omer-Zählen.
Unsere biblischen Vorfahren standen Jahr für Jahr vor einer großen Herausforderung: Neben der harten Arbeit auf Äckern, in Obstgärten und auf Weinbergen mussten sie jeden Abend daran denken, wie viele Tage seit Pessach vergangen waren. Die Grundidee besteht in der Erfüllung des Körperlichen mit dem Geist, nicht etwa eine monastische Abkehr von allem Physischen. Selbstverständlich wird ein Mönch in seiner Zelle jeden Abend daran denken, die Tage zwischen zwei religiösen Festen zu zählen. Schafft das auch ein gestresster Landwirt, der zwischen einer kalbenden Kuh und der Tenne rennt? Die jüdische Antwort darauf lautet: ja!
Die jüdische Mystik fügt hinzu: Ein Mensch kämpft lebenslang um sein Privileg, ein Menschenwesen zu sein, ohne auf die Ebene der dahinvegetierenden Pflanzen und des fressenden und sich paarenden Viehs herabzusinken. Der biblische Aufruf „Lass uns einen Menschen machen!“ (Genesis, 1:26) richte sich nicht nur an die Engel, die in die Erschaffung der Krone der Schöpfung einbezogen werden sollten (so Raschi zur Stelle), sondern vor allem an den Menschen selbst, so der chassidische Meister Rabbi Nachman.
Mit anderen Worten: Der Schöpfer gibt uns den göttlichen Funken. Doch ein Feuer daraus zu entfachen, ein Mensch zu werden, ist unsere Aufgabe. Nicht nur Zellteilung und Reproduktion, sondern vor allem Bildung führt einen Menschen zu höheren Zielen. Er entwickelt sich in vielen kleinen Schritten, die sich zu größeren Etappen auf dem Weg zu einem hehren Ziel summieren.
Genauso besteht der Weg zwischen Pessach (Gerste, ein Sinnbild von Vieh) und Schawuot (Weizen, ein Symbol des erhabenen Menschenwesens) aus sieben Wochen, jede von denen aus sieben Tagen besteht. Ein Mensch kann körperlich stark wie ein Ochse sein und gleichzeitig geistig auf das Niveau eines Ochsen herabsinken.
Die Heilung des Monats Iyar ist eine jährliche Prophylaxe dagegen. Wie jede Therapie funktioniert sie nur durch ausnahmslose Regelmäßigkeit. Jeden Abend nach dem Einbruch der Dunkelheit sagen wir laut: Heute ist der Tag Nr. X, die Woche Y in Omer, d.h. der Schritt XY auf dem steinigen Wege zwischen Pessach und Schawuot, zwischen Exodus und Offenbarung, zwischen Vieh und Mensch.
Sachor! Erinnere Dich!
Nach dem alten Ritus von Aschkenas (jüdische Bezeichnung für den deutschen Sprachraum) beginnt im Monat Iyar die Trauerzeit von Omer. Der Grund dafür lässt uns auf den ersten Blick kalt: Nach dem tragischen Tod von sechs Millionen Juden im 20. Jahrhundert lösen weder die relativ kleine Zahl von vierundzwanzigtausend Schülern von Rabbi Akiwa noch die zeitliche Entfernung von knapp zweitausend Jahren ein aufrichtiges Trauergefühl aus.
Doch der israelische Historiker Josef Chaim Jeruschalmi hilft uns, durch sein Werk „Zachor! Erinnere Dich!“ zu begreifen, dass das kollektive und historische Gedächtnis der Juden Ereignisse wie Folien aufeinanderlegt und einzelne traurige Erinnerungen aus unterschiedlichen Epochen miteinander verschmelzen lässt.
1096 begann am 8. Iyar die Judenverfolgung durch die Kreuzfahrer, von denen die Juden in Worms, Mainz, Köln und Trier vor die Wahl „Taufe oder Tod“ gestellt wurden. Am 20. Iyar 1288 wurden die Juden von Troyes und Neuchâtel absurderweise des Ritualmords beschuldigt und lebendig verbrannt. Am 13. Iyar 1427 wurden die Juden aus Bern vertrieben. Am 14. Iyar 1933 ging die erste Hälfte der Prophezeiung von Heinrich Heine in Erfüllung: „Wer Bücher verbrennt, wird auch Menschen verbrennen“.
Und am 15. Iyar 1935 begann mit der Vorbereitung der Nürnberger Rassengesetze die Erfüllung der zweiten Hälfte. Am 20. Iyar 1942 wurden alle schwangeren Frauen des Ghetto von Kovno durch die Nazis zum Tode verurteilt.
Wir empfinden die Tragödien der fernen Vergangenheit so intensiv nach, als ob sie keine alten und vernarbten, sondern frische und offene Wunden wären. Denn die Katastrophen der jüngeren Vergangenheit sind ihre direkten Folgen.
Was war die Todesursache der Schüler von Rabbi Akiwa? Eine Seuche? Oder herrschte keine Einigkeit unter den Juden im Kampf gegen die Römer (so die Deutung von Rabbiner Uri Scherki)? Oder war es sogar ein Bürgerkrieg der Juden gegen Juden (die Deutung von Rabbiner Binyamin Lau)? Eine alte jüdische Fabel berichtet, wie die von G‘tt erschaffen Bäume erschauderten, als G‘tt Eisen erschuf.
„Habt Ihr Angst vor Äxten? Dann gebt kein Holz für die Axtstiele und Euch wird nichts geschehen!“, belehrte G‘tt die Bäume.
Sowohl der jüdisch-hellenistische Historiker Josephus Flavius als auch die römischen Quellen berichten über Zwist und Streit unter Juden. Dann begann die Quelle der späteren Katastrophen – das römische Exil. Wäre der Tempel nicht zerstört und der Bar-Kochba-Aufstand nicht blutig niedergeschlagen worden, wäre nie all das geschehen, was die Trauerzeit im Monat lyar prägt.
Anscheinend ist Uneinigkeit unsere Schwäche, während Traditionen und ein zähes kollektives Gedächtnis zu unseren Stärken zählen. Ebenso wie unsere Lebensfreude.
Nachdem am 4. Iyar begangenen Jom haSikaron, dem Erinnerungstag an die Gefallenen, leuchtet die Hoffnung am Horizont wie ein Sonnenstrahl durch die Wolken: Jom ha Atzmaut, der Tag der Unabhängigkeit des Staates Israel. Hoch und stolz wehen die weiß-blauen Fahnen.
Die biblischen Worte werden in neue Gebete eingeflochten – Nifleotaw li-W‘ne Adam – „seine Wunder, die Er den Menschenkindern gemacht hat.“
Nur drei Jahre nach der größten Katastrophe, der Schoah, geschah das, wofür unsere Vorfahren Jahrtausende gebetet hatten: jeder jüdische Mensch konnte nach Israel zurückkehren. Jeder Feind der Juden wusste, dass die beste Armee der Welt ihn ins Visier nehmen würde.
Nicht nur im technisch-militärischen Sinne ist die Zahal (IDF) die beste Armee der Welt. Zum ersten Mal in der Militärgeschichte erlebt die Menschheit eine Armee, deren Soldaten nicht vergewaltigen und plündern, nicht die Taktik der verbrannten Erde anwenden, sondern ihr eigenes Leben riskieren, um Frauen und Kinder ihrer Feinde nicht zu gefährden, selbst wenn Feinde sich hinter eigenen Schulen, Krankenhäusern und Moscheen verstecken, um Kollateralschaden zu provozieren.
„Bei uns ist jeder Mensch ein Soldat und jeder Soldat ein Mensch“, behaupten die Israelis.
In einer seiner Vorlesungen sagte Professor Uriel Simon kurz und knapp: „Wer das Gegenteil behauptet, weiß nicht, wovon er spricht.“
Und ich füge hinzu: „Oder verbreitet Lüge und Verleumdung.“
Am 18. Iyar wird die Trauer um die Schüler von Rabbi Akiwa unterbrochen. Lag ba-Omer, ein Tag der Lagerfeuer und Bogenschützen ruft in die Frühlingswiesen und -wälder. Am 28. Iyar wird die Trauerzeit weiter durch Jom Jeruschalaim unterbrochen. Dabei handelt es sich nicht um eine Siegesfeier, sondern um eine friedliche, heitere Freude über die Rückkehr der Juden zu jener Stadt, die sie in jedem Gebet sehnsüchtig erwähnen. Zur uralten Mauer, die im Herzen der Heiligen Stadt wie ein stummer Postbote unzählige Briefchen zum Himmel emporträgt.
Nach dem jekkischen (südwestdeutschen) Ritus dauert die Trauerzeit bis zum Schabbat vor Schawuot, weil die Gräueltaten der Kreuzfahrer im Rheintal am Vorabend vom Schawuot verübt wurden. Spielt es noch eine Rolle, was während des Ersten Kreuzzugs 1096 geschah, nachdem so viele Jahrhunderte vergangen sind und so viele Opfer zu betrauern sind? Ja.
Sachor! Erinnere Dich!